Marktreport Videokonferencing 12.06.2009, 11:32 Uhr

Raumschiff Enterprise ist gelandet

Anbieter von Videokonferenzsystemen profitieren von der Wirtschaftskrise – Umfangreiche Auswahl an Lösungen für Einsteiger und große Unternehmen – Audioqualität für den Anwender ebenso wichtig wie ein scharfes Bild
Viele Technikvisionen aus den Science-Fiction-Serien der 1960er-Jahre werden in der Realität wohl unerreicht bleiben – so etwa das Beamen der Herren Spock, Kirk und Co. als alternative Art des Transports. Die berühmten Video-„Telefonate“ von der Kommandobrücke der Enterprise hingegen scheinen heute in vielen Unternehmen Einzug zu halten: Videoconferencing ist auf dem Vormarsch.
Dabei hatte es lange Zeit danach ausgesehen, als würde dieses ewig gehypte Technologieversprechen nie eingelöst werden. Ein kleiner Rückblick: Bereits 1936 hatte die deutsche Reichspost Pionierarbeit geleistet, indem sie in den Postämtern einiger deutscher Großstädte sogenannte „Fernseh-Sprechstellen“ eingerichtet hatte. In diesen Räumen war es solventen Kunden erstmals möglich, Videotelefonate mit weit entfernten Gesprächspartnern zu führen. Die Technologie war zu dieser Zeit allerdings recht exklusiv und verschwand in der Weltkriegsphase erst einmal in der Versenkung. Zwar folgten in den Nachkriegsjahrzehnten immer wieder aufkommende Videotelefonie-Wellen, doch selbst mit der relativ breitbandigen ISDN-Technik konnte sich das Bewegtbild-Ferngespräch nicht so recht durchsetzen.
Die Zeit ist reif
Das änderte sich recht schlagartig mit der Verbreitung des Internet gegen Ende der 90er-Jahre. Nachdem der Dienst ICQ bereits 1996 zuerst Chatten und dann Voice-over-IP einer breiten Anwenderschaft schmackhaft machen konnte, erweiterten in den letzten zehn Jahren immer mehr Anbieter ihre Produkte um Video-Chat-Möglichkeiten. Am oberen Ende der Skala profitierten die Anbieter von Highend-Videoconferencing ebenfalls vom Web-Boom: Einerseits wurden die Bandbreiten der IP-Netze kontinuierlich ausgebaut, andererseits ebneten immer effizientere Algorithmen zur Videokompression den Weg für die heute verfügbaren, hochauflösenden Raumkonferenzsysteme.
Die Technik ist also reif, und nun spielt den Anbietern auch noch die aktuelle Wirtschaftslage in die Hände: Weil allerorten die Reisebudgets knapper werden, suchen immer mehr Unternehmen nach Alternativen zum Vor-Ort-Meeting und investieren verstärkt in Lösungen für virtuelle Konferenzen. Angesichts der Angebotsfülle fällt die Entscheidung für das geeignete Produkt indes nicht leicht, denn die Skala reicht von kostenlosen Chatsystemen bis zu Telepräsenzräumen zu Preisen im sechsstelligen Eurobereich.
Interview mit IDC-Analyst Dan Bieler zum Thema Videokonferencing
Tabelle: Übersicht der verschiedenen Angebote

Raumschiff Enterprise ist gelandet (Teil 2)

Einstiegsdroge Gratis-Messenger
Den Einstieg in das Thema Videokonferenz markieren heute Instant-Messenger-Programme wie beispielsweise Skype, der Yahoo Messenger 9 sowie Microsofts Windows Live Messenger. Der Vorteil: Die Investitionen sind gering, Anwender müssen lediglich die Software auf ihren Rechner laden und eine Webcam installieren – und natürlich über einen breitbandigen Internetanschluss verfügen.
Bei den meisten Tools dieser Kategorie müssen allerdings alle Gesprächspartner die gleiche Software verwenden, weil jeweils unterschiedliche Protokolle und Codier-Algorithmen zum Einsatz kommen. Ein zusätzlicher Nachteil: Bei diesen Lösungen bleiben Videogespräche auf zwei Personen beschränkt, weitere Teilnehmer können an der Konferenz lediglich über den Audiokanal mitwirken. So werden diese Programme vor allem im privaten Bereich oder in kleinen Unternehmen mit geringen Ansprüchen eingesetzt.
Kleinere Unternehmenslösungen
Eine Stufe darüber sind die Mittelklasse-Konferenzanwendungen auf PC-Basis angesiedelt, die je nach Programm Konferenzen mit deutlich mehr Teilnehmern erlauben. Zudem besteht die Möglichkeit, neben den Teilnehmereinblendungen auch noch einen Präsentationsbildschirm hinzuzuschalten. Sofern der Anwender über einen Zweitmonitor verfügt, kann er dann das Live-Video auf dem einen und die zu zeigenden Dokumente auf dem anderen Display positionieren.
Für komplexere Anwendungen – wenn beispielsweise Konstruktionspläne mit Partnerfirmen besprochen werden sollen oder wenn das Topmanagement über verschiedene Standorte hinweg tagen möchte – sind diese Lösungen allerdings nicht geeignet. Diese Ansprüche bedienen die Anbieter großer Videokonferenzlösungen wie Cisco, Tandberg, Polycom, Sony oder Vcon. Zu den entscheidenden Merkmalen dieser Produktkategorie zählt die Integration von Industriestandards. Das bedeutet beispielsweise eine nahezu durchgängige Unterstützung der von der Internationalen Fernmeldeunion ITU definierten Regenschirmnormen H.320 und H.323.
In der Praxis heißt das, dass sich beispielsweise ein Polycom-Desktop-Client in eine Konferenzschaltung mit einem Tandberg-Raumsystem einklinken kann. Tatsächlich funktioniert ein solches herstellerübergreifendes Conferencing heute in nahezu jeder beliebigen Produktkombination. Das Kompetenzzentrum für Videokonferenzdienste (VCC) an der Technischen Universität Dresden hat dazu unter anderem eine hilfreiche Kompatibilitätsmatrix erstellt (http:// vcc.zih.tu-dresden.de). Die Wissenschaftler aus der sächsischen Hauptstadt verfolgen laufend die aktuellen Marktentwicklungen und veröffentlichen die Zusammenfassungen ihrer Erkenntnisse auf der genannten Website.
Interview mit IDC-Analyst Dan Bieler zum Thema Videokonferencing
Tabelle: Übersicht der verschiedenen Angebote

Raumschiff Enterprise ist gelandet (Teil 3)

Raumfüllendes Erlebnis
Mit dem Begriff Telepräsenz markieren die Hersteller wiederum die Oberklasse des Videoconferencing – gemeint sind damit Komplettlösungen für dedizierte Konferenzräume, die sowohl die Raumausstattung als auch die darin integrierte Konferenztechnik umfassen. Der Einstieg in diese Kategorie beginnt bei kleineren Anordnungen, die aus einer 2- bis 3-Monitor-„Leinwand“ sowie einem darauf abgestimmten Tischensemble bestehen.
Neben der vordergründig sichtbaren Ausrüstung bedarf es beim Aufbau unternehmensweiter Konferenzlösungen noch einiger zusätzlicher Infrastrukturbausteine. So stellen Serverkomponenten beispielsweise sicher, dass sich mehrere Standorte und Konferenzräume ohne großen Aufwand zu einer großen Telepräsenzsitzung zusammenschalten können.
Dazu zählen etwa eine Konferenzbrücke, ein Video Media Center, Aufnahme- und Streaming-Server oder auch eine Management- und Scheduling-Applikation. Der Aufwand, eine möglichst realistische virtuelle Konferenzatmosphäre zu schaffen, hat seinen Preis. Laut Polycom beginnen die Kosten für Highend-Konferenzräume bei 250.000 Euro. Dem gegenüber stehen die in Aussicht gestellten Einsparmöglichkeiten.
So können Unternehmen im Schnitt ihre Reisekosten um 30 Prozent senken – von der Zeitersparnis ganz zu schweigen.
Allerdings ist die Implementierung eines Videoconferencing-Systems in der Praxis nicht so einfach, wie viele Anbieter dies in ihrer Werbung versprechen.
Technische Hürden
Zur größten Barriere bei der Einführung von Audio- und Video-Streaming – gleichgültig ob es sich um eine Mittelklasse- oder Highend-Lösung handelt – zählen ungeeignete Infrastrukturkomponenten, insbesondere die Firewall-Technik: So bieten Application-Layer-Firewalls beispielsweise mehr Sicherheit als Paketfilter-Varianten, doch benötigen sie mehr Rechenleistung. Die Folge: Steigt das Datenvolumen, kann die Firewall die Pakete nicht mehr schnell genug verarbeiten und bremst den für Echtzeitkommunikation erforderlichen Durchsatz. Auch Proxy-Server und NAT (Network Address Translation)-Geräte bilden potenzielle Hindernisse, die auf ihre Eignung überprüft werden müssen.
Eine weitere Hürde bei der Einführung von Videokonferenzsystemen liegt in der Komplexität des Standards. Große Videokonferenzsysteme basieren gewöhnlich auf H.323-Protokollen und erfordern einen dedizierten Gatekeeper, der Adressauflösung, Bandbreitenmanagement und Vergabe von Richtlinien übernimmt. Daraus ergeben sich aufwändige Konfigurationsmaßnahmen für die Firewall, um die gewünschte Anwendungsfunktionalität im Unternehmen bereitzustellen. Das Spektrum an Möglichkeiten reicht vom Isolieren der Systeme außerhalb der Firewall über das Öffnen mehrerer Ports auf H.323-inkompatiblen Geräten bis hin zu IP-Tunneling.
Interview mit IDC-Analyst Dan Bieler zum Thema Videokonferencing
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Raumschiff Enterprise ist gelandet (Teil 4)

Codec-Flut und die Bedeutung der Audioqualität
Der Erfolg von Voice-over-IP (VoIP) und Videokonferenzen beruht zudem maßgeblich auf der Entwicklung effizienter Audio- und Video-Codecs, wie das berühmte Beispiel MP3 zeigt. Inzwischen existiert eine regelrechte Flut von Codier- und Decodier-Algorithmen. Manche davon – wie etwa ITU-T G.711 – sind für Telefongespräche mit durchschnittlicher Audioqualität bei 64 KBit/s konzipiert. Andere wie der aktuelle H.264 eignen sich für hochauflösende Videoübertragung (HD) in allen Netzwerken.
Um die Kommunikation zwischen den verschiedenen Systemen zu ermöglichen, bemühen sich die Hersteller inzwischen um eine Vereinheitlichung der Codecs. Die ITU hat deshalb im Juni 2008 den Audio-Codec G.719 standardisiert. Die Besonderheit dieses Codecs ist, dass er das volle Spektrum der menschlich wahrnehmbaren Frequenzen codiert – von null bis 20 Kilohertz.
Damit eignet er sich auch bestens für Konferenz- und Telepräsenzsysteme. Denn anders als gemeinhin angenommen entscheidet die Güte der Audiowiedergabe über die wahrgenommene Konferenzqualität. Während die Teilnehmer Schwächen bei der Bildqualität kaum wahrnehmen, tragen authentisch übertragene Nebengespräche und Hintergrundgeräusche wesentlich stärker zur interaktiven Atmosphäre einer Telepräsenz-Sitzung bei. G.719 basiert auf dem Polycom-Codec Siren 22, den der Telepräsenz-Anbieter gemeinsam mit Ericsson weiterentwickelt und zur Standardisierung vorgelegt hat.

Um abschließend noch auf den eingangs gezogenen Vergleich zur Enterprise zurückzukommen, wäre mit Videoconferencing zumindest eine Vision von damals endlich Realität geworden. Nur das mit dem Beamen scheint noch in weiter Ferne zu liegen – doch halt: Cisco arbeitet bereits eifrig daran, Personen dreidimensional von einem Ort zum anderen zu verpflanzen.
Konkret hat der Netzwerkspezialist dazu vor einem Jahr die aufsehenerregende Technologiedemonstration „Cisco on Stage Telepresence Experience“ gezeigt: Während der Eröffnung der asiatischen Cisco-Zentrale im indischen Bangalore „zauberte“ CEO John Chambers seinen Kollegen Martin De Beer als lebensechte Hologrammfigur auf die Bühne. Tatsächlich wurde De Beer in Kalifornien in einer klassischen Telepräsenz-Umgebung gefilmt und auf der Bühne in einen geschickt kaschierten Glasquader projiziert. Noch ist diese neue Dimension der Telepräsenz nicht alltagstauglich und erfordert weitere Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Doch wer weiß, vielleicht hören wir von Cisco bald schon den – dann abgewandelten – Spruch: „Beam me up, John.“
Interview mit IDC-Analyst Dan Bieler zum Thema Videokonferencing
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Interview mit IDC-Analyst Dan Bieler

Telecom Handel: Anbieter von Videokonferenzlösungen gelten derzeit als die großen Krisengewinner, da Unternehmen ihre Reisebudgets kürzen. Stimmt das?
Dan Bieler: Nur bedingt, denn die Kosten für diese Lösungen sind zum Teil beträchtlich, und nicht jedes Unternehmen investiert krisenbedingt in Videokonferenzsysteme. Wir stellen allerdings fest, dass es vor allem im Low- und Mid-Segment viel Bewegung gibt. Die Anbieter der Systeme aber jetzt generell als Krisengewinner zu benennen, halte ich für übertrieben.
Telecom Handel: Also handelt es sich doch „nur“ um einen Hype und nicht um die Technologie der Zukunft?
Bieler: Ich bin davon überzeugt, dass Videoconferencing eine große Zukunft hat, allerdings nur bedingt als Stand-alone-Lösung, sondern vielmehr als eine Teilkomponente in der gesamten Kommunikation.
Telecom Handel: Wie kann ein mögliches Szenario aussehen?
Bieler: Ein IT-Manager kann beispielsweise über eine Konferenzlösung einem Kollegen in einer Filiale am Bildschirm Schritt für Schritt erklären, wie er die Software installieren soll. Das Beispiel verdeutlicht auch, dass es in der internen Kommunikation große Einsparpotenziale gibt, die sich durch Videokonferenzsysteme realisieren lassen.
Telecom Handel: Wer setzt derzeit Videokonferenzsysteme ein?
Bieler: Noch sind es vor allem große Unternehmen, die in die teureren Konferenzsysteme investieren, doch auch im Mittelstand gibt es Potenzial, vor allem bei Filialisten mit mehreren Unternehmensstandorten.
Telecom Handel: Und bietet Videoconferencing auch für den indirekten Vertrieb eine Chance auf Zusatzgeschäft?
Bieler: Für Systemhäuser bietet der Markt durchaus Chancen, vor allem im mittleren Segment. Ich würde Systemhäusern aber raten, sich nicht nur auf das Thema Videokonferenzen zu konzentrieren, denn irgendwann werden die Kunden aufhören, ihre Reisekosten zu drücken. Im Rahmen einer Gesamtstrategie – beispielsweise als Teil einer Unified-Communications-Lösung – können Videokonferenzsysteme aber eine sinnvolle Ergänzung sein.
Tabelle: Übersicht der verschiedenen Angebote



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