IP-Centrex 04.11.2010, 11:38 Uhr

Was für virtuelle TK-Anlagen spricht - und was dagegen

Noch sind virtuelle Telefonanlagen ein Nischenmarkt. Doch selbst eingefleischte TK-Anlagen-Bauer betrachten den Markt mittlerweile mit Interesse.
Die Telefonanlage im Netz – hip oder Hype? Fragte man noch vor wenigen Jahren, welchen Stellenwert IP-Centrex künftig in der Telekommunikation haben werde, so lautete die Antwort meist: „Das wird sich niemals durchsetzen.“ Heute hat sich das Bild gewandelt – Distributoren, ITK-Hersteller und auch Systemhäuser setzen sich intensiv mit virtuellen Telefonanlagen auseinander. Auf der Panasonic-Roadshow in diesem Frühjahr beispielsweise gab der Hersteller seinen Partnern eine ganze Reihe von Argumenten pro und contra IP-Centrex mit auf den Weg. Michael Padberg wiederum, Gründer und Ex-Vorstand von Partners in Europe, betonte noch in diesem Sommer: „Künftig sind die wichtigen Wettbewerber nicht mehr die Hersteller, sondern die Carrier“ – und spielte damit auf die IP-Centrex-Angebote der Netzbetreiber an.
Und selbst ein TK-Experte wie Lutz Klein, Geschäftsführer der OCS Kommunikation-Sicherheit-IT im hessischen Lahnau, macht heute deutlich: „Grundsätzlich glauben wir, dass sich kein Händler dem Thema IP-Centrex verschließen kann“ – um dann aber doch noch nachzuschieben: „Allerdings betrachten wir den Markt mit einer gehörigen Portion Skepsis.“ Sönke Weisner wiederum, Geschäftsführer der HTSM GmbH in Hamburg, hat für sein Systemhaus ein Vier-Stufen-Modell für den Einstieg in die Centrex-Welt entwickelt. So gibt es einerseits Vorbehalte gegenüber virtuellen Telefonanlagen, auf der anderen Seite wächst aber das Interesse an diesen Lösungen – denn die Anbieter versprechen ihren Kunden vor allem eines: Kosten zu sparen.
Die Vorteile von IP-Centrex ...
Und in der Tat ermöglicht IP-Centrex eine Reduzierung der Kosten – und dies in mehrfacher Hinsicht: Erstens entfällt die Investition in die TK-Anlage, denn diese wird im Rechenzentrum des Anbieters gehostet. Im Unternehmen selbst werden lediglich die vom Anbieter lizenzierten Endgeräte an das Netzwerk angeschlossen, je nach Arbeitsplatzanforderung stehen dabei unterschiedliche Modelle oder alternativ PC-basierte Software-Telefone zur Verfügung.
Mark Clark, Director Mobility, Carrier and Portfolio Strategies bei Siemens Enterprise Communications, nennt einen weiteren Vorteil von IP-Centrex: „Updates kommen automatisch, das Unternehmen muss sich darum nicht mehr kümmern.“ Der Dienstleister übernimmt den zentralen Betrieb, die Wartung und Administration des gesamten Systems – das entlastet die eigenen Mitarbeiter und schafft gleichzeitig ein Mehr an Kostentransparenz. Denn schließlich werden IP-Centrex-Lösungen nach der Anzahl der genutzten Arbeitsplätze abgerechnet. Gerade für Unternehmen, die großen Wert auf Flexibilität legen und schwankende Mitarbeiterzahlen haben, ist dies ein entscheidender Vorteil. Und nicht zuletzt ermöglichen IP-Centrex-Lösungen oftmals einfachere und wirtschaftlichere Netzwerke über mehrere Standorte hinweg.

... und seine Nachteile

Auf den ersten Blick klingen die Vorteile einer IP-Centrex-Anlage verlockend, auf den zweiten Blick gibt es allerdings auch einige Nachteile. Das Argument der Kostenersparnis wird beispielsweise sehr schnell entkräftet, wenn das Unternehmensnetzwerk (LAN) nicht für die Sprachübertragung gerüstet ist. Statt in eine neue TK-Anlage zu investieren, müssen Unternehmen ihr LAN dann aufrüsten, um es „Voice-ready“ zu machen.
Uli Schunk, Product Manager des Darmstädter IP-Centrex-Anbieters Toplink, macht auf einen weiteren Punkt aufmerksam: Für die Verfügbarkeit der virtuellen Telefonanlage stehe der externe Dienstleister mittels entsprechender SLAs (Service Level Agreements) ein. Da jedoch in den Unternehmen meist nur ein Breitband-Internetanschluss für den Daten- und Sprachverkehr genutzt werde, müsse von Seiten des Kunden eine ausreichende Bandbreite vorgehalten werden. „Hier gilt es, neben einer symmetrischen Übertragungsgeschwindigkeit besonderes Augenmerk auf dynamische Class-of-Service-Mechanismen zu legen, so dass eine Bandbreite für zeitkritische Sprachdaten reserviert wird“, so Schunk.
Zudem bieten IP-Centrex-Lösungen oft nur sehr eingeschränkte Optionen zur Individualisierung, „denn hinter jedem IP-Centrex-Modell steht die Idee, möglichst viele Kunden auf der gleichen Plattform zu bedienen“, führt Florian Buzin an, er ist Geschäftsführer der Karlsruher Starface GmbH. Allerdings haben einige IP-Centrex-Anbieter in diesem Bereich nachgebessert und setzen zunehmend auf Lösungen nach dem Baukastenprinzip – der Kunde kann aus verschiedenen Komponenten ein auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes Produkt wählen.
Eine ebenfalls häufig genannte Kritik ist die Stabilität und Sicherheit der gehosteten Anlage. Fällt der DSL-Anschluss aus, so ist das Unternehmen von der Außenwelt abgeschottet. Nicht einmal interne Telefonate sind dann noch möglich, führen Centrex-Kritiker wie Regina Dettmer, Marketingleiterin bei Auerswald, an. Bei einer TK-Anlage im Haus hingegen führt der Ausfall des DSL-Zugangs nicht zu einem kompletten Absturz, lediglich die Erreichbarkeit über VoIP ist nicht mehr gewährleistet – die interne Kommunikation bleibt davon indes unberührt. Auch besteht die Möglichkeit, für diese Fälle sogenannte Fallbacklösungen zu schaffen, mit denen die Erreichbarkeit auch bei einer DSL-Störung sichergestellt ist. Bluestring-Geschäftsführer Robert Platil verweist bei diesem Punkt auf die geringe Ausfallquote bei DSL-Anschlüssen – und darauf, dass die Mitarbeiter im Fall der Fälle ja immer noch mit ihren Handys telefonieren könnten.
Schwerwiegend ist für viele Unternehmen auch dieser Aspekt: Mit einer virtuellen Telefonanlage geben Firmen einen der wichtigsten Dienste, die Erreichbarkeit des eigenen Unternehmens, in fremde Hände. Eine Entscheidung, die vielen Unternehmen nicht leicht fällt. Kritiker führen darüber hinaus an, dass die Sprachdaten unverschlüsselt vom Endgerät über den Router bis zum Centrex-Anbieter übertragen werden – Stichwort Abhörsicherheit. Allerdings haben einige Centrex-Anbieter in diesem Punkt nachgebessert – die Münchner Nfon zum Beispiel überträgt die Gespräche nach eigenen Angaben verschlüsselt. Der Endgeräte-Hersteller Snom, der Hardware an Nfon und auch an QSC liefert, gibt an, die Verschlüsselung von Gesprächen zu unterstützen.

(Noch) ein Nischenprodukt

Nach wie vor fristet der IP-Centrex-Markt hierzulande allerdings ein Nischendasein: Laut einer Analyse des Bonner Marketingprofessors Jens Böcker – im Übrigen im Auftrag von Nfon – haben virtuelle Telefonanlagen in Deutschland gerade einmal einen Marktanteil von 1,5 Prozent. Zum Vergleich: In den USA macht dieser bereits 25 Prozent aus. Allerdings soll der IP-Centrex-Markt in den kommenden Jahren signifikant steigen – dazu Nfon-Vorstand Marcus Otto: „Bis 2015 erreicht IP-Centrex aller Voraussicht nach einen Marktanteil von 50 Prozent bei den Neuanschaffungen.“ Eine gewagte Prognose, wenn man bedenkt, dass virtuelle Telefonanlagen hierzulande bei den meisten Kunden weitgehend unbekannt sind: Laut der Nfon-Studie aus diesem Frühjahr gaben 61 Prozent der befragten Entscheider an, weder die Begriffe „virtuelle Telefonanlage“ oder „IP-Centrex“ noch „Hosted PBX“ zu kennen.
Einen deutlichen Anschub des Kundeninteresses erwarten Anbieter wie Toplink deshalb, wenn die großen Carrier in den Markt einsteigen. „Wir begrüßen das sehr, da dies die Akzeptanz und Weiterentwicklung innovativer virtueller Telefonanlagen vorantreiben wird“, erklärt Schunk. Hintergrund: Sowohl die Telekom als auch Wettbewerber Vodafone hatten auf der diesjährigen CeBIT eigene Lösungen angekündigt. Vodafone plant mit OfficeNet eine hybride Lösung, bei der von Anfang an das Handy in die virtuelle Telefonanlage eingebunden werden soll, der Start war für diesen Sommer vorgesehen – bislang wurde das Produkt aber noch nicht gelauncht. Aktuell befindet sich das Projekt noch im Rollout der mobilen Variante. „Der Rollout des kompletten Service, inklusive Festnetz und Mobilfunk, beginnt Anfang 2011“, kündigt Sven Fischer an, Leiter Produktmarketing Solutions & Services bei Vodafone Deutschland. Auch das Konkurrenzprodukt der Telekom, DeutschlandLAN, wird bislang noch nicht aktiv vermarktet; wann das System konkret an den Start geht, ist noch ungewiss.
Jürgen Signer, CEO der Aastra Group Germany, gibt sich als ITK-Hersteller vor diesem Hintergrund entspannt: „Zurzeit ist IP-Centrex aus unserer Sicht noch ein vor allem marketinggetriebenes Produkt. Ob und wann es sich am Markt etablieren wird, hängt nun davon ab, wie gut die Anbieter ihre Lösung am Markt positionieren.“ Und weiter: „Wir nehmen IP-Centrex ernst, sehen der Zukunft aber gelassen entgegen.“ Denn sollte sich IP-Centrex durchsetzen, wird auch Aastra einen Teil des Kuchens abgekommen – schließlich liefert der Hersteller schon heute Hardware an Centrex-Anbieter wie Nfon und QSC.
Herausforderung für den Channel
Für diese beiden IP-Centrex-Anbieter arbeitet unter anderem auch Allnet: „Bisher ist IP-Centrex im Fachhandel noch nicht gesetzt“, berichtet Johannes Haseneder im Gespräch mit Telecom Handel. Zwar habe er gemeinsam mit einigen Partnern schon Lösungen implementiert, die Nachfrage sei indes noch relativ gering. Viele Händler, wie auch Lutz Klein, fürchten zudem, durch IP-Centrex Umsätze zu verlieren, beispielsweise indem das Servicegeschäft entfällt. Ein Argument, das Bluestring-Chef Platil nicht gelten lassen möchte: Händler haben im Centrex-Bereich verschiedene Umsatzmöglichkeiten – dazu gehören einerseits die übliche Abschlussprovision, je nach Qualifikation können sie den LAN-Check durchführen und gegebenenfalls die Aufrüstung des Netzwerkes übernehmen. Dazu kommen bei einigen Anbietern noch Billsize-Beteiligungen und dann noch potenzielle Serviceverträge: „Denn die meisten Kunden können oder wollen dies nicht selbst durchführen, auch wenn es noch so einfach ist.“

Meinung 1: "Entscheidende Nachteile bei IP-Centrex"

"Grundsätzlich glauben wir, dass sich kein Händler dem Thema IP-Centrex verschließen kann, allerdings betrachten wir den Markt mit einer gehörigen Portion Skepsis. Virtuelle Telefonanlagen haben im Vergleich zu traditionellen, hybriden oder IP-Anlagen noch immer entscheidende Nachteile: Erstens ist die notwendige Bandbreite nicht überall gegeben, so dass IP-Centrex nicht flächendeckend angeboten werden kann. Zudem ist die durchschnittliche Jahresverfügbarkeit von Breitbandanschlüssen weitaus geringer als die der klassischen analogen und ISDN-Anschlüsse. Das sorgt für längere und häufigere Komplettausfälle, als man dies bis dato gewohnt war.
Ein weiteres Manko von virtuellen Telefonanlagen ist aber auch ihr teilweise sehr eingeschränktes Leistungsspektrum im Bereich der externen Applikationen. Einfache Features wie beispielsweise die Anschaltung einer Tür-/Torsprechanlage oder aber die ELA-Anschaltung in die Fabrikhalle sind nicht oder nur mit viel Aufwand möglich, bei traditionellen TK-Anlagen ist dies kein Problem. Auch beim Thema Datenschutz liefern die Anbieter bislang noch keine befriedigenden Argumente für IP-Centrex – was passiert, wenn ein Unternehmen wichtige Informationen in die Cloud abgibt? Hier warten wir noch auf zufriedenstellende Antworten, doch diese blieben bislang aus.
Die Abhängigkeit von einem Anbieter, der begrenzte Einfluss auf das System und das Thema persönlicher technischer Ansprechpartner sind ebenfalls negative Aspekte für ‚Cloudphonie‘. Als Systemhaus fürchten wir zudem auch Umsatzeinbußen beim IP-Centrex-Modell. Dienstleistungen wie beispielsweise Änderungen an der Programmierung können die Kunden bei einer IP-Centrex-Lösung entweder selbst durchführen oder sie wenden sich direkt an den Anbieter. Bislang haben wir aber diese Services für die Kunden erledigt – und damit auch gute Umsätze gemacht. Alles in allem spricht vieles gegen IP-Centrex, deshalb bieten wir diese Produkte bislang auch nicht aktiv an. Wir sind allerdings gespannt, wie sich der Markt entwickelt.“

Meinung 2: "Wachsendes Interesse"

"Vergangenes Jahr hatte kaum einer unserer Partner Interesse an einer Centrex-Lösung, dieses Jahr setzen sich immer mehr Systemhäuser mit dem Thema ernsthaft auseinander. Der Markt ist noch sehr, sehr jung – wir sind aber davon überzeugt, dass er großes Potenzial bietet. Dennoch werden virtuelle Telefonanlagen die klassischen Anlagen nicht verdrängen, beide Märkte werden parallel existieren.
IP-Centrex eignet sich dabei vor allem für diese Kundengruppen: Unternehmen mit mehreren Standorten und unterschiedlicher Infrastruktur, denn diese können mit IP-Centrex ihre Telefonanlage zentral steuern und damit die Effizienz deutlich steigern. An zweiter Stelle sehen wir Unternehmen, die sich häufig organisatorisch verändern und deshalb großen Wert auf flexible Strukturen legen, für diese bietet IP-Centrex mehr Möglichkeiten, die Anlage kostengünstig und schnell an die veränderten Anforderungen anzupassen. Und als dritte Hauptzielgruppe definieren wir die Unternehmen, die schon in Teilbereichen Services aus dem Web beziehen, zum Beispiel Maildienste. Diese Firmen haben bereits erste Erfahrungen mit Cloud-Services gemacht und sind deshalb virtuellen Telefonanlagen gegenüber aufgeschlossener.
Entscheidend für uns ist: IP-Centrex-Lösungen adressieren vor allem den Mittelstand, der mit einer virtuellen Telefonanlage Dienste wie beispielsweise Automatic Call Distribution kostengünstig einsetzen kann. Die Anbieter haben mittlerweile Lösungen entwickelt, aus denen Kunden ihre Dienste individuell zusammenstellen können. Von dieser Entwicklung kann naturgemäß vor allem der Channel profitieren, der der erste Ansprechpartner im KMU-Bereich ist. Händler, die dieser Entwicklung trotzen, verbauen sich vielleicht eine Chance auf Neugeschäft. “

Meinung 3: "Mit der Entwicklung mithalten"

"Wir gehen aktuell von einer Entwicklung in vier Stufen aus – und haben unser Geschäftsmodell darauf ausgerichtet. So bieten wir unseren Kunden heute an, wie viele andere Systemhäuser auch, ihre Telefonanlage zu betreuen. Die Abrechnung erfolgt bei uns allerdings pro Port, damit ist unser Service für den Kunden einfacher zu kalkulieren. Er kann die Services auch ganz einfach über eine Weboberfläche buchen. In der nächsten Stufe ist die Telefonanlage immer noch beim Kunden implementiert, Applikationen wie CTI, Video oder Presence werden jedoch in unserem Rechenzentrum gehostet, von dort gesteuert und gewartet – Stichwort Managed Services.
Der Vorteil: Ist die SDSL-Verbindung gestört – und das kommt bei einer SDSL-Verfügbarkeit von 95 bis 98 Prozent doch häufiger vor –, so kann der Kunde immer noch telefonieren. Auf CTI kann er im Notfall verzichten, auf das Telefonieren aber nicht. Bei den Kunden kommt dieses Angebot gut an, Managed Services machen bereits in diesem Jahr 15 bis 20 Prozent unseres Umsatzes aus, im vergangenen Jahr lag deren Anteil noch bei drei bis vier Prozent.
So weit die Gegenwart. In Zukunft, in Stufe drei, werden auch die SIP-Trunks bei uns gehostet, wir sehen diese Entwicklung in den nächsten 24 Monaten. Der Kunde hat als Backup aber immer noch einen ISDN-Anschluss. Erst in der vierten Stufe sehen wir reine IP-Centrex-Lösungen ohne ein Backup via ISDN. Wann diese Stufe kommt, darüber möchten wir heute noch keine Prognose abgeben. Sie wird aber spätestens dann eintreten, wenn die Carrier die ISDN-Leitungen kappen und Sprache ausschließlich über IP vermittelt wird. Wichtig ist für uns, dass wir schon heute sowohl bei uns als auch bei den Kunden die Strukturen schaffen, um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten.“



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