TV auf Abruf 02.11.2017, 09:30 Uhr

Hin zum Massenmarkt: Wie Streaming die Fernsehwelt verändert

Ob Musik, Sport, Serien oder Filme: Streaming entwickelt sich zum Massenmarkt. Vor allem junge Menschen nutzen die Angebote bereits sehr intensiv.
(Quelle: shutterstock.com/HaywireMedia)
Den Streaming-Dienst "Dazn" kannte hier bis vor Kurzem kaum jemand. Seit Sommer aber steht die zur britischen Perform Group gehörende Internet-Plattform im Rampenlicht. Denn wer künftig die Fußballspiele der Champions League oder der Europa League sehen will, wird sich  mit Dazn befassen müssen. Die britische Perform Investment Limited, die Dazn betreibt, hat sich ab der nächsten Saison einige hochkarätige Fußballübertragungsrechte gesichert.
Der Fall zeigt, wie einmal mehr die disruptiven Kräfte der Digitalisierung die Medienbranche durcheinanderwirbeln. Ähnlich wie sich Touristikkonzerne inzwischen mit Phänomenen wie Airbnb abmühen müssen, haben es auch die klassischen TV-Anbieter mit neuen Wettbewerbern zu tun. Sie heißen Netflix und Amazon, Hulu und Maxdome, Sky Ticket und Pantaflix und sie profitieren davon, dass die Digitalisierung zu einem einfachen technischen Verbreitungsweg von Inhalten geführt hat.
Früher musste eine Sendeanstalt mühsam Lizenzen erwerben, rechtliche Vorgaben der Aufsichtsbehörden erfüllen und viel Geld in die technische Übertragung pumpen. Inzwischen genügt es, sich Rechte an begehrtem Content zu sichern und über das Internet ­einen Draht zum User aufzubauen. Jahrzehntelange Erfahrung als Medienunternehmer ist nicht mehr unbedingt nötig. 

User wollen nicht auf die Ausstrahlung warten

Schönster Beleg für diese These ist Amazon. Der Online-Versandhändler hat seine bestehenden Kundenbeziehungen genutzt, um einen Video-Streaming-Dienst aufzubauen, der alteingesessenen TV-Anstalten ernsthaft Konkurrenz macht. Der Zugriff auf Tausende von Filmen und Serien kostet den User 7,99 Euro im Monat - inklusive Amazon-Prime-Mitgliedschaft, die ihm zudem noch eine bevorzugte Behandlung als Einkäufer im Shop sichert.
Die steigende Akzeptanz von Streaming-Diensten hat auch viel mit der veränderten Mediennutzung zu tun. Die Digitalisierung hat zu einem User-Verhalten geführt, bei dem Wartezeiten nicht mehr in Kauf ­genommen werden. Sie wollen sich keine fixen Sendezeiten mehr vorschreiben lassen. Insbesondere junge Menschen wollen ­gucken, wann sie wollen, was sie wollen und davon so viel sie wollen. "Früher mussten wir im Regen zur Videothek laufen und uns dort Filme ausleihen. Heute geht das mit einem Tastendruck auf die Fernbedienung", sagt Andrea Malgara, Geschäftsführer der Mediaplus Gruppe, München.
Immer mehr Menschen machen von dem Angebot Gebrauch. Die soeben veröffentlichte ARD/ZDF-Online-Studie gibt an, dass jeder dritte Bundesbürger Video-Streaming-Dienste ab und an guckt (38 Prozent). Je jünger, desto intensiver fällt die Nutzung aus. 14 Prozent der 14- bis 29-Jährigen sind bereits täglich auf Video-Streaming-Portalen unterwegs. Am beliebtesten ist Amazon, gefolgt von Netflix und dem Streaming-Angebot des Pay-TV-Senders Sky, das unter Sky Ticket läuft. 
Bei Sky lässt sich dies nahezu jeden Tag ablesen. Das Unternehmen bietet sowohl ein lineares TV-Programm an, als auch einen Streaming-Dienst. "Wir sehen, dass es eine Zunahme in der Streaming-Nutzung gibt", sagt Martin Michel, Geschäftsführer Sky Media in Unterföhring bei München. "Es besteht ganz offensichtlich ein enormer Bedarf, zeit- und plattformunabhängig Inhalte zu konsumieren."

Streaming-Dienste bewirken ein anderes Sehverhalten

Bei manchen Serien zeigt sich dies besonders deutlich. Die fünfte Staffel von "House of Cards" wurde beispielsweise wesentlich häufiger gestreamt als über das lineare Angebot gesehen. 89 Prozent sahen sich die neuen Folgen irgendwann über das Internet an, nur elf Prozent zu den vorgegebenen Startzeiten.
Michel erklärt diese hohe non-lineare Nutzung mit einem anderen Sehverhalten. Beim herkömmlichen TV-Programm könne man locker auch andere Dinge ­nebenbei erledigen, ohne den Faden zu verlieren. Wer allerdings Serien wie "Game of Thrones" oder "The Walking Dead" ­gucke, tue dies gerne auf dem Tablet mit Kopfhörer. Michel: "Er ist ganz intensiv dabei und möchte nicht gestört werden."
Die Lust am Streaming bleibt nicht auf den Videokonsum begrenzt. Sie umfasst längst auch den Musikmarkt, wo Anbieter wie Spotify, Amazon, Apple, Deezer oder Soundcloud um Kunden werben.
Vereinfacht ausgedrückt, heißt es auch hier: Für eine monatliche Gebühr kann man so gut wie jeden Song zu jeder Zeit und so oft ­hören, wie man will. Für viele scheint dieses Flat-Modell eine attraktive Alternative ­gegenüber dem Kauf einzelner Songs oder dem Modell des klassischen Radios zu sein, bei dem der Sender bestimmt, wann welches Stück gespielt wird. In einer Umfrage des Verbands Bitkom gaben 27 Prozent der Personen (ab 14 Jahren) an, ­täglich einen Musik-Streaming-Dienst im Internet zu nutzen, 18 Prozent sogar "mehrfach täglich".

Spotify schlägt alle

Marktführer unter den Anbietern ist Spotify. Das schwedische Unternehmen kommt inzwischen weltweit auf mehr als 140 Millionen aktive Nutzer, 60 Millionen davon haben den Dienst kostenpflichtig abonniert. Da die Konkurrenz aber nur einen Mausklick entfernt ist, arbeitet Spotify daran, seine Verbreitungswege kontinuierlich auszubauen. Nach der Playstation ist der Musik-Streamingdienst jetzt auch auf der Xbox verfügbar, zudem über sprachgesteuerte Geräte wie Amazon Echo und Google Home. Gleichzeitig wird intensiv daran gearbeitet, so gut wie alle relevanten Künstler an Bord zu haben und neue Angebote wie Podcasts auszubauen.
Ob Musik, Sport oder Bewegtbild: Entscheidend in diesem Zukunftsmarkt wird sein, wer den besten Content hat. "Es geht künftig darum, wer welche Rechte besitzt und wer mit ansprechenden Produktionen die Zuschauer an sich binden kann", sagt Mediaplus-Chef Malgara.
Die TV-Streaming-Dienste nehmen diese Herausforderung sehr ernst und punkten vor allem mit komplexen Serien, an die sich die klassischen TV-Anstalten in der Vergangenheit nicht mehr herantrauten. Sie verstehen sich inhaltlich als Fernseh-Avantgarde und scheuen auch nicht vor Stories über verkorkste Randgruppen zurück. ­Damit erfahren sie jede Menge Anerkennung. Bei der Verleihung der renommierten Emmys im September wurde beispielsweise mit "The Handmaid’s Tale" zum ersten Mal eine Eigenproduktion ­eines Streamingsenders (Hulu) als beste Drama-Serie ausgezeichnet.
Geschätzt sechs Milliarden US-Dollar investiert allein Netflix in diesem Jahr in Eigenproduktionen. Dabei rückt auch zunehmend der deutsche Zuschauer in den Blickpunkt. Amazon Prime Video kündigte beispielsweise soeben eine neue Staffel der Comedyserie "Der Lack ist ab" an, nachdem man zuvor schon mit "You Are Wanted" erfolgreich war.
An allen Ecken scheint der Streamingmarkt in Bewegung zu geraten. Überall wird experimentiert - inhaltlich, mit neuen Technologien und neuen Content-Partnern. Der Disney-Konzern will einen ­eigenen Streamingdienst aufbauen, der Musikdienst Spotify und das ­Videoportal Hulu wollen ihre Inhalte bündeln, ­Steven Spielberg produziert eine SciFi-Serie für Apple, die deutsche Streaming-Plattform Pantaflix drängt auf den asiatischen Markt. Die Deutsche Telekom startet den Online-Dienst Entertain TV und präsentiert die selbst produzierte Serie "Germanized": ­Eine deutsche Firma soll ein französisches Küstenstädtchen vor der Pleite retten.

Was TV-Konzerne beruhigt: Videonutzung oft on top

Natürlich lassen diese Entwicklungen die klassischen TV-Konzerne nicht kalt. Allerdings belegen Untersuchungen, dass der Erfolg von Netflix und Amazon nur bedingt zu ihren Lasten geht. "Bei jungen Zielgruppen sinken zwar die TV-Reichweiten", sagt Robert Schäffner, Leiter Konvergenzforschung bei der Mediengruppe RTL, "das bedeutet aber nicht, dass sie dem klassischen linearen Fernsehen den Rücken kehren. Die Videonutzung kommt vielfach on top. Wer viel streamt, sieht in der Regel auch viel fern."
Und noch etwas beruhigt die Vermarkter klassischer Fernsehspots. Die allermeisten Streamingportale sind werbefrei, machen ihnen auf diesem Feld also keine Konkurrenz. "Werberelevante Massenreichweite ­außerhalb des linearen TV-Angebots ist schwierig zu erzielen", so Schäffner. Die Stellung von TV als Werbemedium werde durch die Streamingportale nicht geschwächt, sagt auch Malgara. Ohnehin stelle sich die Frage, ob User, die sich mehrmals in der Woche am Stück ganze Serien einverleiben (sogenanntes "Binge Watching") werberelevante, sprich finanzstarke Zielgruppen seien.

Video on Demand wird 2020 mit TV gleichziehen

Dennoch wird sich die Kräfteaufteilung weiter in Richtung Streaming verschieben. Netflix legte soeben seine Quartalszahlen vor und überraschte mit der Nachricht, in den vergangenen drei Monaten wieder fünf Millionen neue Abonnenten gewonnen zu haben. Insgesamt kommt der Dienst damit auf knapp 110 Millionen zahlende Kunden. Eine Studie des Ericsson Consumer Lab kommt zu dem Schluss, dass bereits 2020 die Nutzung von Video on Demand mit dem klassischen Fernsehen gleichziehen wird.
Das wird nicht ohne Folgen für andere Bereiche bleiben. Das Kino könnte das nächste Feld sein, in dem mit Streaming experimentiert wird. Das Interesse jüngerer Zielgruppen an gestreamten Kinofilmen ist jedenfalls sehr hoch.



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